Singet! Das ist eine Aufforderung, der man während der Pandemie nur schwer nachkommen kann. Dennoch klingen Lieder in uns und wir singen – anders. In diesem Audiobeitrag hören Sie Gedanken zum Predigttext aus Lukas 19,37-41 von Pastorin Ulrike Koehn. Auf die Auslegung folgen der Psalm des Sonntags „Singt dem Herrn eine neues Lied“ (Psalm 98) und ein Gebet.
Die Predigt in schriftlicher Form finden Sie unter WEITERLESEN.
Liebe Gemeinde, „Das Wandern ist der Müllers Lust…“ sang meine Familie gern bei unseren Ausflügen in meiner Kindheit. An den Feiertagen im Mai ging es raus in die in die Natur. Als Familie und mit anderen befreundeten Familien führte uns der Weg zum Karlstein, in die Heide, nach Bötersheim. Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus,… Komm lieber Mai und mache, die Bäume wieder grün…, Alle Vögel sind schon da… Je länger ich daran zurückdenke, desto mehr Lieder fallen mir ein. Wandern und singen gehörten in meiner Kindheit zusammen. Wandern gehe ich heute immer noch gern. Und singen tue ich auch (jedenfalls vor der Pandemie). Aber beides zusammen habe ich schon lange nicht mehr getan. Wandern und singen zusammen sind aus der Mode gekommen.
Bei einer kleinen Begebenheit im Lukasevangelium, eher einer Randnotiz, wandern die Jünger Jesu und singen. In Lukas 19,37-41 heißt es: Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien. Als Jesus sich der Stadt näherte und sie (Jerusalem) vor sich liegen sah, weinte er…
In dieser Passage des Lukasevangeliums wird es emotional. Denn in Jerusalem wird es sich entscheiden, wie es weitergeht, wie es mit Jesus weitergeht. In der Spannung des Moments brechen die Emotionen auf. Die Menschen am Straßenrand jubeln, weil sie hoffen, dass Jesus die Besatzer vertreibt. Die Jünger singen von einem König, der kommt und eine Zeitenwende einleitet. Schwiegen sie, würden Steine schreien. Und Jesus selbst schaut in die Zukunft und weint über den drohenden Untergang Jerusalems. In nur wenigen Sätzen bei Lukas ist alles drin. Freude und Begeisterung, Jubel durch Gesang. Geschrei und tiefe Traurigkeit. Wie so oft liegt alles ganz nah bei einander: In diesem Moment auf der Grenze – in einer Zeit des Umbruchs auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.
Um ihren Gefühlen Ausdruck zu geben, singen die Jünger. Sie machen sich Mut. Ich habe mir das mal für einen Moment vorgestellt. Jesus und seine wandernden und singenden Männer. Oder sangen auch die Frauen mit? Eine Menge war es. Mehr als 12? Eine singende Männergruppe ist in unseren Tagen ein ungewohntes Bild. Männer singen vielleicht noch mit Bollerwagen am Vatertag oder in Fußballstadien. Hier singen Fischer und Handwerker, die Leute vom Land, die sich um Jesus gesammelt haben und mit ihm Richtung Jerusalem ziehen. Sie schöpften aus einem Schatz gemeinsamer religiöser Lieder. Alle kannten sie und stimmten ein. Es waren Pilgerlieder, die man auf dem Weg nach Jerusalem zu den großen Pilgerfesten sang. Laut besingen sie mit Psalmen (118) die großen Taten Gottes. Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn!
Ihre Lieder verbinden. Ein gemeinsames Liedgut verbindet. Unbekannte Lieder trennen Menschen. Nach manchen Gottesdiensten hört man: „Es war so schön, ich konnte heute alle Lieder mitsingen.“ Oder: „Alles nur unbekannte Lieder, da war nichts für mich dabei.“ Hat der Gesang der Jünger schön geklungen? Auf jeden Fall spürt man die Energie, mit der sie singen. Ihre Freude. Ihre Erwartung. Laut und kräftig loben sie. Ihr Gesang war nicht ungefährlich. Denn die Römer konnten ihn als politische Provokation verstehen. Hier wird ein König besungen. Ein jüdischer König. Das ist ein Affront im römischen Imperium. Gesang ist für Diktatoren schon immer gefährlich gewesen. Bis heute fürchten sie sich vor dem Protest der Straße mit Gesängen und Sprechchören. „We shall overcome!“ Singen verbindet. Es macht aus vielen Individuen eine Stimme. Mit Liedern lässt sich die Wirklichkeit verändern. Aus der Reformationszeit erzählt man sich, dass dort, wo die Protestanten in der Mehrzahl waren, man die Lieder der Reformation auf der Straße sang. „Sie singen schon.“ War der besorgte Kommentar der römisch-katholischen Seite. Und was die Jünger da singen… Sie singen vom „Friede im Himmel und Ehre in der Höhe.“ Fast hört es sich wie ein Weihnachtslied an: Sie singen von dem Versprechen der Engel bei Jesu Geburt. Der Engelsgesang des Himmels ist nach 30 Lebensjahren Jesu auf der Erde angekommen. Die Hirten haben wohl noch nicht gesungen, aber die Fischer von See Genezareth singen nun den Lobgesang der Engel. Das ist ein Zeichen: Jetzt wird es ernst, jetzt geht es los! Die Trennung zwischen Himmel und Erde wird aufgehoben. Im Gesang verbindet sich die sichtbare mit der unsichtbaren Welt bereits.
Und wir heute? Würden wir mitsingen? Das Gotteslob klingt in diesen Tagen besonders leise? Die Situation der Pandemie verstärkt dies noch. Geistliche Lieder singen bei uns nur noch wenige. Vielen sind sie fremd geworden. Ihr Inhalt geht an den Erfahrungen vorbei. Melodien klingen fern. Die neuen Lieder haben auch nicht viele Sängerinnen und Sänger. Manche klingen in meinen Ohren wie aus dem Schlager-Karussell. Über Musikgeschmack lässt sich trefflich streiten. Musik soll Menschen verbinden. Doch oft habe ich den Eindruck, dass die Musik die Geschmäcker von einander trennt. Es ist wie ein Spiegel unserer Gesellschaft. Jeder hat seine eigenen Lieblingslieder. Man ist stolz auf seinen exklusiven Musikgeschmack. Für Gottesdienste ist das eine Herausforderung. Gemeinsamer Gemeindegesang funktioniert nur noch selten. Bei den Beerdigungsfeiern hatte ich im zurückliegenden Jahr den Eindruck, dass viele erleichtert sind, weil sie nicht mehr singen müssen und ich nicht frage, welche Lieder sie sich für die Trauerfeier wünschen? Bei Trauungen wird das Singen eh schon den Profis überlassen. Viele sind ungeübt im Singen. Und schnell vergleicht man sich mit den super produzierten Musikstücken, die unsere Ohren zu hören gewohnt sind. Dabei ist Singen etwas sehr schlichtes und etwas sehr persönliches. Wer selber gern singt, wie die vielen, die in Chören singen, weiß das. Die menschliche Stimme ist so unmittelbar. Es ist ein Glücksmoment, wenn sich die Stimmen in einem einen Choral verbinden. Gesungene Worte dringen tiefer in das Bewusstsein. Singen kann die Stimmung aufhellen. Beruhigen. Befreien. Erheben. Singen ist immer emotional. Von Balkon zu Balkon mit Abstand vergewissern wir einander: Wir sind nicht allein. „Friede im Himmel und Ehre in der Höhe.“
Wie also in dieser gesangsarmen Zeit singen? Zuhause. Unter der Dusche oder im Auto. Allein singen – geht zum Glück immer. Summen. Oder den Vögeln beim Singen zuhören und von ihnen lernen. Ein Sprichwort sagt: Die Wälder wären still, wenn nur die begabtesten Vögel sängen. Jede Stimme fügt sich in das Ganze und macht im Frühling den herrlichen Gesang aus. Oder wie Paul Gerhard es empfiehlt: Du meine Seele singe! Innerlich singen. Mit dem Herzen singen. Oder beim Wandern singen – zurzeit noch mit mir allein. Amen.
Gebet
Guter Gott, dein Lob singen wir – aus Freude an unserem Leben. Lass uns in dein Lied einstimmen, dass von der Befreiung singt, auch da wo alles eng und klein ist.
Guter Gott, dein Lob singen wir – auch im Widerstand gegen alles, was Menschen belastet: gegen Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit, gegen Gewalt und Verletzung der Menschenwürde.
Guter Gott, dein Lob singen wir – Du selbst bist in uns der Atem, der uns am Leben hält. Unser Gesang klinge durch Tränen hindurch. Lass uns nicht verstummen, wenn Angst in uns aufsteigt.
Guter Gott, dein Lob singen wir – aus Freude an unserem Leben. Wir stimmen ein in den Lobgesang des Lebens mit allen Geschöpfen dieser Erde: „Friede im Himmel und Ehre in der Höhe.“ Amen